Nicolas Born

Er war das Gesicht der deutschen Literatur der 1970er Jahre: Geprägt von Melancholie und Bitterkeit angesichts eines revolutionären Aufbruchs, der in blinde Gewalt und Sektierertum umgeschlagen war; von Rückbesinnung auf die eigene, durch Krieg und Nachkriegszeiten geprägte Biographie, die, so sein Credo, weder in Ideologien noch Weltanschauungen, sondern allein in Literatur sich artikulieren konnte. Schreiben war für Born, den „deutschen Camus“ (Heinrich Maria Ledig-Rowohlt), ein Rückzugsort, aber nicht, um sich eskapistisch zu verschanzen, sondern um sich der Innenwelt, der Träume, der Utopien zu versichern, die kein System, keine Außenwelt, keine technische Projektion abzudecken vermag.

Born ist als Autor im Umfeld des von Dieter Wellershoff propagierten Neuen Realismus großgeworden und entschied sich nach seinen ersten Veröffentlichungen und dem Besuch der Autorenwerkstatt Prosa 1964 am Berliner Literarischen Colloquium, seinen Beruf als Chemograf, den der in Duisburg als Klaus Jürgen Born als Sohn eines Autobahnpolizisten Geborene ausgeübt hatte, aufzugeben und nach Berlin zu ziehen. Neben Kollegen und Freunden wie Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Becker und Peter Handke war Born maßgeblicher Protagonist einer neuartigen, vom Alltag, Pop, Unterwegssein, der Entdeckung des „Westens“ (Frankreich, USA) geprägten Literatur. Statt begrifflicher Abstraktion und gedanklichen Tiefsinns stellte sie Schlichtheit, Sinnlichkeit, Attraktivität, Intensität des Materials in den Vordergrund und verlieh dem Schreiben eine Aufbruchsstimmung, wie sie zeitgleich um 1968 den politischen Aufbruch in der westlichen Hemisphäre prägte.
Wie der zweieinhalb Jahre jüngere Rolf Dieter Brinkmann, als dessen sanfter Gegenpart Born oft empfunden wurde, debütierte er beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, wie Brinkmann mit Prosa (dem Roman Der zweite Tag, 1965), der Gedichte folgten (Marktlage, 1967, und Wo mir der Kopf steht, 1970), und wie der Frank-O’Hara-Übersetzer Brinkmann rezipierte und übersetzte er die us-amerikanische Lyrikszene, insbesondere den anderen großen Kopf der New York School, Kenneth Koch, eine Arbeit, die er 1970 während eines Aufenthalts am Writers Workshop in Iowa begonnen hatte und die 1976 bei Rowohlt in der Reihe das neue buch erschien. Zuvor, 1972, hatte Born mit eigenen neuen Gedichten in der selben Rowohlt-Reihe für Furore gesorgt: Das Auge des Entdeckers, ein Band, in dem Science Fiction und Lyrik auf furiose Weise miteinander verschmelzen. Nach dem Aufenthalt als Stipendiat an der römischen Villa Massimo 1972 begann er in mit seinen Berliner Maler- und Dichterfreunden aus dem Umfeld der Rixdorfer Künstlerkolonie (Uwe Bremer, H.C. Buch, Johannes Vennekamp) das Wendland für sich zu entdecken; es erinnerte ihn mit seiner Elbtalaue an die weite niederrheinische Flusslandschaft seiner Kindheit. Das nicht weit vom alten Elbviadukt hinüber nach Dömitz gelegene Langendorf wurde 1973 Borns erster Wohnsitz; sein dort erworbener Bauernhof brannte 1976 bis auf die Grundmauern nieder; daraufhin zog er nach Groß Breese bei Dannenberg. Im selben Jahr erschien bei Rowohlt sein Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte, eine Bilanz der Sehnsüchte und Enttäuschungen seiner Generation. 1978 kam sein letzter Gedichtband zu Lebzeiten Keiner für sich, alle für niemand heraus. Seine Mitherausgeberschaft beim Rowohlt Literaturmagazin prägte die Literaturszene der 1970er nachhaltig.

Als Mitglied der Jury des 1975 von Hubert Burda gestifteten Petrarca-Preises sorgte Born u.a. für die postume Anerkennung Rolf Dieter Brinkmanns und die späte Würdigung seines Mentors Ernst Meister. Während der Niederschrift an seinem letzten Roman Die Fälschung ereilte Born die Diagnose Lungenkrebs. Den Erfolg des Romans sowie dessen Verfilmung durch Volker Schlöndorff (1981) erlebte der Dichter nicht mehr, der am 7. Dezember 1979 im Beisein Peter Handkes verstarb. Die Literaturkritik war sich jedoch schon bei Erscheinen des Buchs im Herbst 1979 einig, dass hier eines der Hauptwerke der 1970er Jahre vorlag – und einer der ersten Romane, die mit der massenmedialen (Kriegs-)Berichterstattung ins Gericht gehen: Die Fälschung schildert den Entfremdungsprozess eines Reporters, dem während des Libanon-Krieges die Einsicht dämmert, dass er im mächtigen Printmedium, für das er arbeitet, seine persönliche Wahrheit und Empfindung des Krieges nicht wird darstellen können; Born selbst war 1977 über Griechenland nach Libanon gereist. Gregor Laschen, Borns Hauptfigur, zieht am Ende des Romans die einzig mögliche Konsequenz: aussteigen und aufs Land fahren – wie Born selbst es tat, als er mit dem Wendland und dem Elbholz, dem er ein spätes großes Notizgedicht widmete, seinen Utopie-Raum reklamierte, den er nicht zuletzt in der Gorlebener Anti-Atomendlager-Bewegung vehement gegen die Übergriffe von Staat und Industrie verteidigte.

Nicolas Borns Grab auf dem Friedhof von Damnatz direkt hinter dem Elbdeich schmückt eine Skulptur des Bildhauers Klaus Müller-Klug. Sein Werk erscheint seit 2007 bei Wallstein (Gedichte; Briefe – hg. v. Katharina Born).

Jan Volker Röhnert